"Stoppen Sie TTIP" forderten am 10. Oktober Zehntausende in Berlin (Foto: IG BAU).
16.10.2015
Archivmeldungen 2015
"Stoppen Sie TTIP", "Für fairen Welthandel", "Stoppt die Großkonzerne" - mit Forderungen wie diesen, protestierten am 10. Oktober in Berlin fast eine Viertelmillion Menschen gegen die geplanten Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union. Nach einhelliger Meinung von Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden, sägen die Vereinbarungen an den Grundrechten und gefährden soziale Standards. Auch die IG BAU Hamburg hatte zum Protest aufgerufen und kurz vor der Massendemonstration ins Centro Sociale geladen, um sich mit den Abkommen zu beschäftigen.
Die Zahl der DemonstrantInnen war so gewaltig, dass Veranstaltern und Polizei kurzzeitig bange wurde: "Bitte verlassen Sie den Platz jetzt zügig in alle Richtungen", rief ein Sprecher von der Bühne, "bleiben Sie nicht auf den Brücken stehen!". Auch eine halbe Stunde nach Demobeginn war die quälende Enge vor dem Berliner Hauptbahnhof noch nicht gelindert, und als Stunden später die Abschlusskundgebung an der Siegessäule begann, hatten noch immer nicht alle TeilnehmerInnen den Startpunkt verlassen. Ob nun AnhängerInnen der LINKEN oder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ob Umweltaktivisten oder Vertreter von Gewerkschaften und Sozialverbänden: Sie alle hat die Furcht vor tiefen Einschnitten in tradierte gesellschaftliche Standards auf die Straße getrieben, die Sorge vor einer Art Allmacht transnationaler Konzerne.
 
Grüne und weiße Riesen-Ballons mit "Greenpeace"-Schriftzug und durchgestrichenem "TTIP"-Logo.

Auch Greenpeace war in Berlin vertreten, sorgt sich um hiesige Umweltstandards (Foto: IG BAU).

"Stoppen Sie TTIP", appellierten sie deshalb auf tausenden Fähnchen an die Politik - weil TTIP zwar nur eines von drei Freihandelsabkommen ist, die die EU zur Zeit mit den USA und Kanada verhandelt, aber eben auch das weitreichendste. Denn auch wenn große Teile der Transatlantic Trade and Investment Partnership noch im Geheimen besprochen werden, ist Eines klar: Es geht um "Harmonisierung", um die Angleichung der sozialen und wirtschaftlichen Regelungen dies- und jenseits des Atlantiks.
Und diese Angleichung funktioniert traditionell nur in eine Richtung: Nach unten. Wie anders sollte die EU beispielsweise ihr gut ausgebautes Arbeitsrecht mit den arbeitgeberfreundlichen Regelungen der USA "harmonisieren"? Die Vereinigten Staaten haben bis heute noch nicht einmal die wichtigsten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anerkannt, würden niemals den hohen Arbeitnehmerschutz akzeptieren, wie er beispielsweise in Deutschland herrscht. Und während chemische Produkte hierzulande erst zugelassen werden, wenn ihre Unschädlichkeit bewiesen ist, müssten jenseits des Atlantiks erst Menschen nachweislich durch ein Produkt zu Schaden kommen, bevor die Behörden reagieren.
 
Große Glasfassade, darauf der Schriftzug "Berlin Hauptbahnhof" von hinten, dahinter Zehntausende Menschen mit Fahnen.

Blick aus dem Berliner Hauptbahnhof: Kurz nach Demobeginn ließ die Polizei den Bahnhof schließen, weil der Platz der Auftaktkundgebung bereits überfüllt war.

Menschen, Fahnen, dazu ein Papp-Plakat mit der Aufschrift "Stoppt die Gross-Konzerne".

So unterschiedlich die politischen Schwerpunkte, so klar die gemeinsame Aussage der DemonstrantInnen: Profitinteressen dürfen nicht über Grundrechten stehen.

Menschen, Fahnen, Luftballons, in der Mitte ein IG BAU-Transparent mit der Aufschrift "Für fairen Welthandel" und durchgestrichenen "TTIP"-Symbolen.

"Für fairen Welthandel" - Auch die IG BAU war stark auf der Demo vertreten (alle Fotos: IG BAU).

 
Grund genug also, zu demonstrieren. Grund genug auch für die IG BAU Hamburg, sich einmal tiefer in die Materie zu stürzen. Am 6. Oktober, wenige Tage vor der großen TTIP-Demo, luden der Bezirksvorsitzende Matthias Maurer und sein Vorstand ins Centro Sociale an der Feldstraße, um zusammen mit Fritz Heil (Mitarbeiter des IG BAU-Bundesvorstandes), Dr. Christian Christen (DIE LINKE) und dem freien Autor Thomas Fritz über mögliche Folgen von TTIP & Co zu sprechen. Dabei machte Christen gleich zu Anfang deutlich, wohin die Reise geht: "Bei Freihandel geht es nicht um Freiheit! Freiheit ist immer regulierter Handel - die Frage ist nur: Zu wessen Gunsten?"
 
Das Centro Sociale mit Referenten und Publikum, im Hintergrund Banner der IG BAU.

TTIP-Veranstaltung im Centro Sociale: "Freihandel hat nichts mit Freiheit zu tun".

Ein Mann mit Dreitagebart und Brille spricht. Er trägt ein kariertes Hemd und ein schwarzes Sakko.

Matthias Maurer, Vorsitzender der IG BAU Hamburg, begrüßte die gut 30 Interessierten.

Drei Männer am Tisch. darauf Unterlagen und Getränke. Im Hintergrund der Schriftzug "Faire Arbeit jetzt".

Das Podium (v.l.): Autor Thomas Fritz, Gewerkschafter Fritz Heil, LINKEN-Mitarbeiter Christian Christen (alle Fotos: IG BAU).

 
Wie weitreichend diese Regulierung sein kann, das machte kurz darauf Thomas Fritz deutlich: Traditionell nämlich sei das Ziel von Freihandelsabkommen vor allem der Abbau von Zöllen. Bei TTIP & Co aber gehe es darum nur am Rande: 80 Prozent der bisher bekannten Vertragsbestandteile regelten den Abbau sogenannter "Handelshemmnisse". Und das könnten neben sinnfreien gesetzlichen Regelungen eben auch Arbeitnehmerrechte sein - oder Umweltstandards. "Eine Aufwärtsharmonisierung ist also nicht vorgesehen", so Fritz.
 
Grauhaariger Mann dunklem Teint und Brille, im Hintergrund der "BAU"-Würfel der IG BAU.

"Eine Aufwärtsharmonisierung ist nicht vorgesehen", sagt Autor Thomas Fritz ("TTIP und CETA in Hamburg").

Zwei Männer am Tisch, einer dunkelhaarig mit Brille, der andere mit Glatze, Dreitagebart und Brille. Dahinter der Schriftzug "Faire Arbeit jetzt!".

Christian Christen: "Es geht nicht um Freiheit. Freihandel ist immer regulierter Handel."

Diskutierende Veranstaltungsbesucher.

Reichlich Diskussionsstoff: Auch nach Ende der Veranstaltung wurde noch eifrig debattiert (alle Fotos: IG BAU).

 
Um die Harmonisierung voranzubringen, ergänzte Christen, sähen die verhandelten Abkommen die Einführung von Schiedsgerichten vor, in denen vor allem private Anwaltskanzleien das Sagen hätten. Die würden Unternehmen beraten, gegen welche Handelshemmnisse sie mit Erfolgsaussicht vorgehen könnten und damit eine Art Paralleljustiz aufbauen. In "60 bis 70 Prozent" der Fälle, schätzt Christen, obsiegen vor solchen Schiedsgerichten die Unternehmen.

Während Heil sich vor diesem Hintergrund um die Vereinigungsfreiheit sorgt, die ja ein ausgewachsenes "Handelshemmnis" sei, erinnerte Fritz an den Fall des Vattenfall-Konzerns, der vor einem Schiedsgericht in Washington auf 4,7 Millionen Euro Entschädigung klagt. Diese Summe sei dem Energie-Riesen an Gewinn entgangen, weil sich die Bundesregierung nach dem Reaktorunglück von Fukushima für den Atomausstieg entschied. In einem anderen Fall gehe der französische Entsorger VEOLIA gegen ägyptische Mindeslöhne vor, die seine Gewinne schmälerten.

Christen: "Am Anfang haben die Befürworter mit Wachstum und zusätzlichen Arbeitsplätzen argumentiert". Seit das mit Verweis auf bereits bestehende Freihandelsabkommen "gut widerlegt" sei, werde nun plötzlich die Konkurrenzstellung zu China hervorgehoben. Am Ende waren sich Referenten und Publikum einig, dass der Widerstand gegen die Abkommen noch einmal verstärkt werden muss, um den Druck auf die Parlamente in Berlin und Brüssel zu erhöhen. Die Berliner Großdemonstration wird dabei hilfreich sein.